Meine Mutter, die von 1902 bis 1992 lebte, hörte ich oftmals sagen: „Was ist doch alles in Deutschland geschehen!“ Was ich von ihr und meiner zahlenmäßig starken Verwandschaft gehört habe, möchte ich hier an dieser Stelle weitergeben. Auch in meinem eigenen Leben hat es erstaunliche Erfindungen auf allen Gebieten der Technik und Veränderungen im Zusammenleben der Menschen gegeben. Einiges davon werde ich im Folgenden berichten.

Inhaltsverzeichnis

In den Häusern der Armen

Arm war man, wenn die Eltern Zigarren rollten, oder auf den Feldern bei der Ernte halfen – so wie das heute sog Fremdarbeiter tun. Im Winter war für diese „Ungebildeten“ auf den Feldern nichts mehr zu ernten. Sie fuhren ins Ruhrgebiet als Fremdarbeiter aus dem heutigen Ost-Westfalen-Lippe. Kamen im Frühjahr wieder heim, um auf den Feldern der Großbauern sich zu verdingen. So erging es den Nachfahren der ehemals Unfreien. So war es auch anfangs im Hause meines Vaters gewesen.
Im Elternhause meiner lieben Mutter ging es noch ärmlicher zu. Vor dem Ersten Weltkriege waren die Familien der unteren Volksschichten sehr kinderreich. Wer etwas auf sich hielt, nannte sechs bis neun Kinder sein Eigen. Meine Großeltern mütterlicherseits hatten jedenfalls sechs Jungs und drei Mädels. Diese aßen mit ihren Eltern auf der Deele ihres Miniatur-Bauernhauses, sonntags allerdings in der guten Stube – aber bitte nacheinander. So ähnlich war es jedenfalls im Hause meiner Mutter gewesen.
Meine Eltern waren schon etwas reicher geworden als die Großeltern. Denn nach dem Ersten Weltkriege und der folgenden Weltwirtschaftskrise halfen die USA den Familien aus der Enge heraus. Es wurde gebaut! Wer von den Soldaten den Krieg überlebt hatte, der kaufte beim Bauer einen kleinen Acker von etwa 1000 qm und baute darauf ein kleines Häuschen von etwa 100 qm Grundfläche, wenn er als Hauseigentümer auf dem Lande leben wollte. Die Toilette war schon im Haus, teilte sich jedoch mit dem angebauten Schweine- oder Ziegenstall die sogenannte „Jauchegrube“. Es wurde ein Brunnen gebaut, denn Wasserleitungen existierten nur in den Städten. So war das kurz vor dem Zweiten Weltkriege bei uns auf dem „Schweichelner Berg“. Dort stand auch die „Alpenschänke“, über deren Bezeichnung sich mein österreichischer Freund köstlich amüsierte, als er uns einmal besuchte.

Auf Feldern und Dielen

Die Diele-„Deele“ plattdeutsch genannt- war der Arbeitsbereich des Bauern und seiner Knechte. Dort befand sich der Dreschwaagen, der Vorläufer des Mähdreschers. Mähen konnte er nicht. Er drosch lediglich das Korn aus den Ähren der Gaben, welche der „Leiterwagen“ vom Feld geholt hatte. Leiterwagen hieß er deshalb, weil seine seitlichen Begrenzungen wie Leitern aussahen. Zwischen ihnen wurden die Gaben vom Feld auf die Deele transportiert. Auf dem geernteten Getreidefeld hatte man die Gaben zum Trocknen zu kleinen Häuschen aufgestellt, die wie Zelte aussahen. Die Gabe selbst bestanden aus gebündelten Getreidepflanzen, bestehend aus Stiel und Ähre. Diese Gaben wurden auf der Deele im Dreschwagen gedroschen. Dabei wurde das Korn vom Stroh getrennt. Das Stroh wurde auf dem Dachboden als Viehfutter gelagert, das Korn wurde in der Mühle zu Mehl verarbeitet. So war das früher und nach dem Zweiten Weltkriege in Deutschland.
Nach der Ernte wurde der Acker für die neue Saat wieder vorbereitet. Aber noch nicht mit Supertrecker und Zwölfschalenpflug, der Pflügen und Eggen in einem Arbeitsgang erledigt. Oh nein, die Zugmaschine bestand aus einem Pferd, der Flug aus Holz mit einer metallischen Flugschale.
• Doch dann eroberte der Verbrennungsmotor auch den Acker in Gestalt des „Bulldozers der Firma Lanz“, kurz Lanz genannt. Es handelte sich dabei um einen Benzinmotor mit nur einem Zylinder. Damit er trotzdem rund laufen konnte, besaß er ein riesengroßes Schwungrad.
• Aufgrund des physikalischen Gesetztes „Action gleich Redaktion“ wurde der Treckerfahrer arg strapaziert. Ging der mächtige Kolben nach vorne, so ruckte der Lanz samt Fahrer nach hinten. Ging hingegen den Kolben nach hinten, … nah, Sie wissen schon! Heutige Trecker lassen sich für fast alle Arbeiten auf Hof und Feld einsetzen, ohne dass der Bauer zu Schaden kommt!
• Mit den modernen Maschinen lassen sich Getreide, Kartoffeln, Mais und Zuckerrüben nicht nur ernten, sondern auch einsähen. Welch eine Entwicklung während einer einzigen Menschengeneration?

Auf Straße und Schiene

Um den Einzelnen in seiner gesellschaftlichen Stellung gerecht zu werden, muss man differenzieren, wenn die menschliche Fortbewegung in Betracht gezogen wird. Da gibt es zunächst den Groß-Grund-Besitzer.
Auf Gut Oberbehme sitzt seit vielen Generationen die Familie „Von Laar“, die dem holländischen Adel entstammt. Von einem ihrer Ahnherren erzählten sich meine Vorfahren die folgende Geschichte: Während die Adligen im späten 19.Jahrhundert in der Regel ihre Pferdekutsche benutzten, falls sie Kirche oder Verwandte besuchen wollten, dachte jener Herr von Laar sehr modern. Er wollte unbedingt mit der Bundesbahn unterwegs sein, die direkt vor seinem Wasserschloss vorbeifuhr. Nur hatte die deutsche Bundesbahn ihm keine Haltestelle eingerichtet. Dem Herrn von Laar stand kein Bahnhof zur Verfügung. Doch er war vermögend! Wenn er nach einer Bahnreise wieder zu seinem vertrauten Wasserschloss zurückwollte, dann zog er einfach dort, wo die Schienen seinem trauten Heim am nächsten verliefen, die Notbremse. Da der adlige Herr sehr gern per Bahn verreiste, geschah das sehr oft. Schließlich hatte er die deutsche Bundesbahn dort, wo er sie haben wollte: Sie baute ihm einen Bahnhof an der Stelle, an der er bislang pflegte auszusteigen. Allerdings bestand dieser Bahnhof vollständig aus Holz und glich daher den Bahnhöfen, die man oftmals zu sehen bekam, wenn man einen Wildwestfilm sah, bei dem es sich um einen Überfall auf die amerikanischen Eisenbahn handelte.
Auch nachdem die Herren von Laar den Wild-West-Bahnhof nicht mehr benutzten, stand er dort noch bis zum Ende des 20.Jahrhunderts. Grund war ein technisches Problem der Bahn. Die Strecke zwischen Bünde und Herford blieb fast bis zum Ende des vorletzten Jahrhunderts einspurig. Daher wurde an einer Stelle dieser Strecke ein Ausweichgleis benötigt. Da Oberbehme etwa auf halbem Wege zw Herford und Bünde liegt, wurde dieses vor dem Wildwest-Bahnhofes angelegt. Wenn ein Zug aus Herford Richtung Bünde losfuhr, dann fuhr ihm ein anderer aus Bünde entgegen. Mitunter war der „Bünder“ früher an der Ausweichstelle, das andere Mal gewann der „Herforder“ das Rennen. Jedenfalls hielt immer einer von beiden Zügen am Oberbehmer Bahnhof an. In der Regel stieg dort nach dem Heimgang des oben erwähnten Herrn niemand mehr ein oder aus. Weder die Herren von Oberbehme noch jene von Steinlake benutzten den „Bünder“ oder „Herforder“.
Für fremde Zugreisende ergab sich jedoch ein besonderes Ereignis, wenn der Zug am Holzbahnhof hielt. „Gucke mal da!“ Diese und ähnliche Worte konnte man vernehmen. Einige unter den Reisenden amüsierten sich auch über den Namen „Oberbehme“, welcher in großen Lettern über dem Eingang des Miniarturbahnhofes stand. Mancher hat den Namen wohl für die altdeutsche Bezeichnung für „Oberschenkel“ gehalten oder für noch obzönere Bereiche.
Dabei sollte „Behme“ nichts anderes als „Bach“ bedeuten. Gemeind war wohl der Bach, der im naheliegenden Sumpf entspringt und etwa 100m weiter östlich die Gräfte der Wasserburg speist. Dennoch fanden einige Zugfahrgäste den Namen „Oberbehme“ recht lustig. Mein Freund Detlef allerdings, der jeden Morgen mit dem Zug von Bünde über Herford nach Bielefeld zum Helmholtzgymnasium fahren musste, konnte diesem oftmals längeren Halt nichts Positiver abgewinnen und kommentierte die Haltestelle gelegentlich mit den Worten: „Der Zug hält ja an jedem Baum!“
Nun ist der Bahnhof Oberbehme schon seit Jahrzehnten verschwunden – dieser idyllische Bahnhof. Doch vielleicht erhält er eines Tages einen Nachfolger. Das neue Industriegebiet zwischen den beiden Rittergütern könnte einen neuen Bahnhof durchaus gebrauchen. Es wäre sehr umweltschonend, wenn die Beschäftigten des dortigen Industriegebietes mit dem Zug anstatt mit dem Auto kämen und gingen. Die Rücksicht auf unsere Natur könnte dieses erforderlich machen.

14.07.21 Kk

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