Nach dem zweiten Weltkrieg waren in Deutschland nicht nur viele Häuser zerstört, sondern auch so mancher Deutscher. Dabei waren es nicht in erster Linie die körperlich Behinderten wie die Einarmigen und Einbeinigen, welche besonderes Aufsehen erregten, sondern auch die geistig und seelisch Geschädigten. Selbst die Menschen, welche ohne ersichtlichen Schaden den Krieg überlebt hatten, mußten mit starken sozialen Einschränkungen leben.

Inhaltsverzeichnis

Zeitungsbote ohne Orientierung

In Herford gab es einen Zeitungsboten, der ganz in einem leuchtenden Gelb gekleidet war, damit die Autofahrer ihn nicht übersahen. Wenn er sich einige Schritte nach vorn bewegt hatte, bog sich sein Oberkörper langsam nach hinten wie bei einem Skifahrer, der Rückenlage bekommen hatte. Dadurch verlor dieser Bote das Gleichgewicht und mußte, ob er wollte oder nicht, wieder einige Schritte in die entgegengesetzte Richtung tun. Es sah schon eigenartig aus, wenn sein Vorwärtsdrang immer mehr erlahmte und die Fahrt nach hinten begann, erst langsam, dann immer schneller, bis er schließlich seines Oberkörpers wieder Herr wurde, ihn nach vorne gebogen hatte und dadurch die Bewegung nach hinten bremste, schließlich völlig stoppte und in die Fahrt nach vorne wieder umlenkte. Er konnte sich nur deshalb vorwärts bewegen, weil er stets darauf achtete, mehr Schritte in die richtige Richtung zu setzen als in die falsche. Wenn dann die Kunden, welche er zu bedienen hatte, ihm einen oder mehrere Schnäpse einschütteten, dann wurden seine Bewegungen noch turbulenter. Nur gut, dass es in der Stadt noch nicht so viele Autos gab wie heutigen Tages!

Briefträger mit Sonderaufgaben

Den Volksschülern der Zwergschule Schweicheln II war „Onkel John“ bestens bekannt. Er trug einen blauen Rock mit keilförmigem Ausschnitt am Rücken. Neben demselben ging der Rock weit nach unten, in zwei Spitzen auslaufend. Sie sahen aus wie zwei Flügel. Diese waren hochgebunden und mit ihren Spitzen im Rückenbereich des Rocks festgesteckt. Er sah damit aus wie ein Maikäfer vor dem Start. Onkel John trug auch eine blaue Mütze mit einem gelben Posthorn. Hose und Schuhe waren schwarz. Damals wurde die Post bei uns noch mit einem Fahrrad ausgetragen oder besser: ausgefahren. Das Rad sah ganz normal aus, also schlicht schwarz. Es hatte vorne die Reifenbremse und hinten den Rücktritt, aber keine Schaltung. Links und rechts am Lenker hingen Pakete. Auf dem Gepäckträger war eine Ledertasche festgebunden, welche Brief enthielt. Da in den Fünfzigern verhältnismäßig wenige Leute in der noch selbständigen Gemeinde Schweicheln lebten, schaffte unser Briefträger das Ausfahren und Austragen der Post an einem einzigen Tage, morgens unten im Tal der Werre, also in Schweicheln I , nachmittags oben in Schweicheln II am Berg.
Oben im Ort standen Einfamilienhäuser mit großflächigen Gärten, in denen neben Kartoffeln, Bohnen, Erbsen, Salate und vielen anderen Nutzpflanzen auch Obstbäume angepflanzt waren. Onkel John konnte mehr als nur Briefe transportieren. Wenn im Winter diese Bäume geschnitten werden mussten, so übernahm er auch diese Arbeit.
Da er in die Jahre gekommen war, schob er dann sein Rad am frühen Nachmittag den Schweichelner Berg hoch. Wenn er ein Grundstück fand, auf dem er die Obstbäume schneiden konnte, so war ihm das durchaus Recht. Das Rad lehnte während dieser Zeit zusammen mit seiner Last an der Hecke des Grundstücks. Was er für das Baumschneiden von den Leuten bekam, wussten wir nicht. Doch eines war uns klar: Wie jeder Hausschlachter zur Schlachtzeit so erhielt auch der Briefträger seinen „Klaren“. Nach einigen dieser erfrischenden aber gefährlichen Wässerchen fuhr Onkel John mit seinem Drahtesel eine Wellenlinie. Das war weiterhin nicht schlimm, denn im Dorf fuhr kein Auto. Das einzige besaß der Milchmann und der war am Morgen schon mit seiner Runde fertig geworden. Trotzdem lag unser blauer Beamte eines Wintertages mit seinem Rad im Straßengraben. Wie es der Zufall wollte, wehte auch noch ein scharfer Nord-Ost- Wind.
Im Dorf erzählte man, heute werde die Post nicht ankommen. Man habe Onkel Johns Briefe auf dem Acker gesehen. Ich will nicht sagen, dass die Deutsche Bundespost damals nicht zuverlässig war. Onkel John war jedenfalls in seinen letzten Dienstjahren ein gewisser
Schwachpunkt dieses Unternehmens. Von seinem Ruhestand hat er leider nicht viel gehabt. Kurz nach seiner Pensionierung verstarb er an Krebs.

Der Mann mit dem Schreck

In Münster gab es am Inselbogen eine kleine christliche freikirchliche Gemeinde in einer Wohnung, eine sog. Hauskreisgemeinde, in der sich die Mitglieder mit Schwester und Bruder anredeten. Dort war nun ein Bruder „Schreck“. Er war in den letzten Kriegstagen unter den Trümmern eines Hauses verschüttet gewesen. Dabei hatte er einen Schock erlitten. Er zitterte am ganzen Körper. Er hieß also nicht nur „Schreck“. Der Schreck steckte ihm auch in den Knochen. Er hatte das Kriegsende nicht lange überlebt.

Bamm aus Bielefeld

In Bielefd gab es den sogenannten „Bamm“. Er hatte in den letzten Kriegstagen unter den Trümmern eines zerbombten Hauses gelegen. Nachdem man ihn von diesen befreit hatte, stellte man eine Neurose bei ihm fest: Alle dreißig Sekunden warf er sich in den Rücken und
rief dabei ganz laut: “ bamm!!! „. Offenbar musste er fortwährend die Detonation der Bombe imitieren, die ihn vorübergehend begraben hatte.Wer ihn nicht kannte, konnte durchaus glauben, er befinde sich bei den Aufnahmen eines Horrorfilmes. Kein Bielefelder drehte sich nach Bam um, wenn er „explodierte“, denn jeder kannte ihn — nur der Fremde wunderte sich. Das gestaltete die Sache für den letzteren besonders schockierend.

Wilfried und Walfried

Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gab es weder in unserem Dorf noch in der nahe gelegenen Stadt ein Volksfest. Der Ruf „Kirmes“, „Vision“ oder „Schützenfest“ erschallte noch nicht. Stattdessen sorgte die Botschaft „Manöver, Manöver“ für Aufsehen. Auf der Wiese des benachbarten Bauern hatten sich Engländer niedergelassen. Es muss vor 1950 gewesen sein, kurz vor meiner Einschulung. Mein Freund Wilfried und ich waren sofort dort. Vor einen wohnwagenähnlichen Gebilde saß ein englischer Offizier mit einem Gewehr auf dem Rücken. Es war mit einem roten Tuch umbunden, gerade dort, wo der Abzug war. Da ich schon als kleiner Junge fast überall dranging, scheute ich mich auch hier nicht, meine kleinen Finger nach dem roten Tuch auszustrecken. Es traf mich ein äußerst böser Blick. Der Soldat muss mein erschrecktes Gesicht bemerkt haben, denn er wurde augenblicklich freundlicher, nachdem ich ängstlich die Hand zurückgezogen hatte. In seiner Verlegenheit holte er eine leere Cola-Dose aus seiner Tasche und warf sie vor unsere Füße. Ohne dass ein Wort fiel, begannen wir beiden Freunde mit der Dose Fußball zu spielen. Das herzhafte Lachen des Engländers klingt mir noch heute in den Ohren. Nachdem wir uns ausgetobt hatten, rief er uns zu sich. Zunächst erhielt jeder von uns ein großes Stück Schokolade. Dann wollte er von mir wissen, wie ich heiße.-„Walfried!“, sagte ich. „Und Du?“, wandte er sich an meinen Freund. – „Wilfried!“, antwortete jener.
Jetzt lachte der Offizier nicht mehr. Stattdessen wurde er sehr nachdenklich und sprach immer wieder voller Verwunderung die beiden Worte vor sich hin: „Wilfried-Walfried , Wilfried-Walfried, ..“, so als könnte er es nicht begreifen und ich verstand nicht, warum er das tat.
Später habe ich mir folgendes gedacht: Offenbar erkannte er in unseren Namen den Wunsch der Deutschen:Wir wollten den Frieden! Und wir wollten ihn durch Wälle schützen!

Auf Russlandfeldzugs „kaputt“

Einer meiner Onkel, welcher am Russlandfeldzug teilgenommen hatte, erzählte oft und gerne von seinen Erfahrungen während des Krieges. Einmal berichtete er Folgendes: „Wir hatten ein Dorf eingenommen. Der Unteroffizier, der uns anführte, hatte eine MP auf dem Rücken. Als er versuchte, die Dielentür eines Bauernhauses einzutreten, da löste sich ein Schuß aus seiner Maschinenpistole. Da war er kaputt.“-„War die MP kaputt?“, fragte ich ihn.-„Nein, der Unteroffizier“, kam es zurück. Damals war ich etwa fünf Jahre alt. Ich war entsetzt, dieses Wort im Zusammenhang mit einem Menschen zu hören. Bei mir ging immer nur das Spielzeug kaputt. Dass auch ein Mensch kaputtgehen könnte, war mir fremd. Entsetzlich empfand ich die Vorstellung, dass eines Tages auch mein Vater oder meine Mutter „kaputtgehen“ könnten! Später wurde mir jedoch klar, dass die Menschen, die so viele schreckliche Dinge erlebt hatten wie mein Onkel, innerlich verroht sein mußten. Dahinter stand ein gewisser Selbstschutz, der das Furchtbare für sie erträglich machte! Des Öfteren erzählte er von dem russischen Kriegsgefangenen, der sich in die Hüfte gegriffen habe. Diesen habe er gefragt: „Ischias“? – „Nix Ischias, kaputt Arsch“, sei die Antwort gewesen.

Tank oder Tiger

Ein anderes Mal verlief unser Gespräch etwa folgendermaßen. Onkel Erich erzählte: „Wir standen vor einem Fluß, der zugefroren war. Wir trauten uns nicht über das Eis. Da kam ein Tiger die Böschung hinunter, der einfach den Fluß überquerte!“ – „Ein Tiger“, fragte ich entsetzt. – „Junge, das war ein schwerer deutscher Panzer,“ erwiderte mein Onkel.

Torwart auf dem Sportfest

Es fand natürlich alljährlich ein Sportfest statt – im bescheinen Rahmen, versteht sich! Im Tor der Altherrenmannschaft stand der Dorfwirt. Er hatte bis zu dieser Stunde schon reichlich ausgeschenkt und bei sich reichlich eingeschenkt. Passieren konnte ihm auf dem Ascheplatz nicht viel, denn er war eingepackt wie ein Eishockeyspieler. Nur der Schläger und der Helm fehlten. Dafür trug er eine sog. Schlägerpfanne auf dem Haupte, wegen der Sonne. Nun gab es einen Elfmeter gegen ihn. Der Schütze war betagt und auch nicht mehr ganz nüchtern. Damit er nicht das Tor verfehlte, hatte er einfach geradeaus geschossen. Was heißt „geschossen“? Der Ball rolle direkt auf den Kipper zu. Dieser hätte
sich nur niederbeugen brauchen, um den Ball sicher in seinen Händen zu empfangen. Wenn er dieses wegen Schwindelgefühle unterlassen wollte, dann hätte er ruhig stehen bleiben können. Es wäre das „Geschoss“ an seinen Beinen abgeprallt, sofern diese nicht gespreizt worden wären. Nun hatte sich der Tormann aber auf eine Parade festgelegt. Er wollte den Ball unbedingt erhechten! Es wäre ja auch noch alles gut gegangen, wenn ihm das „timing“ gelungen wäre. Der Mann unter der Schlägerpfanne sprang hoch, um sich bäuchlings auf den
Ball zu werfen. Nur der war schon unten durch, als er landete.

Der rechte Verteidiger

Das war kein Jurist, sondern ein Abwehrspieler-und was für einer! Wenn er sich einmal entschlossen hatte, den Ball wegzuschlagen, dann schlug er auch zu, ganz gleich, ob sich die Situation mittlerweile verändert hatte oder nicht. Gegenspieler, die ihn kannten, versuchten an den Ball zu kommen, bevor er zum Beinschlag ausgeholt hatte. Gelang ihnen dieses nicht, dann ließen sie ihm den Ball.
Bald kannte ihn jeder Stürmer.

Ein Gedankenspieler unter den Zuschauern

Fast jedes Dorf hatte damals ein Original. So hatten wir auch bei uns einen Sonderling. Unser Bolzplatz war durch Betonpfähle begrenzt, die im oberen Teil ein Loch aufwiesen, durch das ein Eisenrohr geführt war. Dort stand er nun, beide Hände um das Rohr geschlungen, und
spielte mit. Die fußballbegeisterten Dorfbewohner kannten ihn und überließen ihm ein beachtliches Terrain, auf dem er sich austoben konnte. Fremde mussten natürlich Lehrgeld bezahlen. So weit, so gut ! Doch eines guten Sonntages schlug dieser junge Mann dann doch über die Strenge. Der Erzrivale aus dem Nachbardorf war angetreten, um eine alte Rechnung zu begleichen. Bis kurz vor dem Abpfiff stand es unentschieden. Doch dann flankte ein gegnerischer Mittelfeldspieler haargenau.
Ein gegenerischer Stürmer, welcher den Pass angenommen hatte, umspielte unseren Torhüter und der Ball rollte ganz gemächlich auf das Tor zu. Da hielt es der Gedankenspieler an der Eisenstange nicht mehr aus! Er eilte auf das Spielfeld und drosch den Ball ins Seitenaus. Es wurde lange diskutiert bis schließlich der Schiedsrichter entschied: „Kein Tor!“ Die allgemein verbreitete Kriegsmüdigkeit sorgte wahrscheinlich dafür, dass keine Fehde zwischen den Nachbardörfern ausbrach.

Ein Schalker in Schweicheln

Nach dem Kriege hatten sich viele erstklassige Fußballer aus dem Ruhrgebiet in ländlichen Regionen niedergelassen, wo sie Unterkunft bei Freunden gefunden hatten.So kam auch ein Schalker Spieler in unser Dorf, wo er dann auch in der ersten Mannschaft spielte. Da die Haushalte noch nicht über Fernseher verfügten, blieb er in den ersten Spielen unerkannt. Mein Onkel erzählte folgendes: Die Bauern aus dem Nachbardorf schickten ihre erste Division, um unsere Fans zu demütigen. Bis zur 80.Minute führte ihre Mannschaft haushoch. Doch dann wurde bei uns der Schalker eingewechselt. Innerhalb von nur 10 Minuten schoß er sechs Tore. Ein Dorfbewohner riß daraufhin einem gegnerischen Fan die Mütze vom Kopf und warf sie hoch in die Luft. Wie mein Onkel berichtete, entwickelte sich daraus anschließend eine Schlägerei, bei der jedoch keiner zu Schaden kann. Das ostwestfälische Gemüt ist sehr fair und schlägt nur auf die harten Körperteile, bei denen man sich höchstens die Fäuste verletzen kann. Aber diese sind genau so widerstandsfähig wie die Köpfe.
Nov. 2005 Kk

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