Um 1950 war in unserer Siedlung, ja sogar im ganzen Kreisgebiet, die kleinbäuerliche Kultur noch spürbar. Jeder Hausbesitzer nannte einen kleinen Garten sein Eigen und natürlich auch Haustiere. Eines davon war sogar lebenswichtig – das Schwein. Am Haus war ein kleiner Stall gemauert, in dem es sich ein Jahr lang mästen ließ.
Tante Minna hatte ein dickes, kräftiges Vieh. Als eines Tages die Küchenabfälle zur Fütterung nicht mehr ausreichten und auch der Garten nicht mehr das nötige hergab, entschloß sie sich, von der Brauerei Träbern zu bestellen. Diese entstanden aus dem Hopfen nach dem Brauen. Sie waren ganz umsonst. Das Schwein war ganz verrückt auf die neue Speise, was sein Schmatzen verriet. Aber nach einer halben Stunde gierigen Fressens fiel es einfach um. Tante Minna geriet in Panik. Das Schwein sollte ja die Familie ein ganzes Jahr lang mit seinem Fleisch ernähren. Es durfte deshalb nicht sterben, jedenfalls jetzt noch nicht. Also rief sie den Tierarzt. Dieser pflegte mit Motorrad und Rucksack anzureisen. Er untersuchte das Schwein eingehend und stellte seine vollkommende Gesundheit fest. Was war geschehen ? – Nichts besonderes: Das Schwein war besoffen. Nachdem es seinen Rausch ausgeschlafen hatte, benahm es sich auch wieder ganz normal.
Einmal im Jahr war Schlachttag, ein großes Ereignis: Wasser musste heiß gemacht werden, eine Wurstmaschine mußte her usw. und natürlich ein Hausschlachter. An unserem Schlachttage erlebte ich, was noch viel schlimmer war als ein betrunkenes Schwein – nämlich ein betrunkener Schlachter. Er kam mit einem Schußapparat. Dieser sah aus wie eine Siliconspritze: Ein Stahlzylinder mit Griff. Wenn man diesen hochzog, kam aber vorne kein Silicon heraus, sondern ein Stahlbolzen. Außerdem gab es einen lauten Knall! Joseph, so hieß der lebensfrohe Schweinetöter, hatte aufgrund seines Zustandes große Schwierigkeiten, das Ding richtig anzusetzen. Es mußte der Sau zwischen den Augen direkt vor die Stirn gehalten werden, bevor man schoß. Dazu wäre es angebracht gewesen, das Tier durch Zuspruch und Streicheln zu beruhigen. Aber der Vierbeiner wurde allein schon durch den Anblick seines Scharfrichters in Panik versetzt. So kam das, was kommen mußte. Joseph schoß daneben! Jetzt war es ganz aus mit der Geduld des Schweins. Es rannte alles um, was sich ihm in den Weg stellte und versuchte sogar an der Wand hoch zulaufen. Dabei quiekte es so laut, dass es zum Erbarmen war. Da es mir zu viel wurde und da ich ihm sowieso nicht helfen konnte, entschloß ich mich, die Kellertreppe hoch zueilen. „Bloß weg hier“, dachte ich. Offenbar dachte so auch das Schwein, denn als ich mich auf der Treppe umsah, war es dicht hinter mir. Ich konnte ihm gerade noch die Kellertür vor der Nase zuschlagen. Nun brauchte ich mir seinen Todeskampf nicht mehr mit anzusehen. Das erbärmliche Quieken allerdings hörte nicht auf! Dann ein zweiter Knall und anschließende Stille. Hatte Joseph nun endlich getroffen? Nein! Mein Schwager Paul kam durch die Kellertür mit dem Schußapparat und erzählte mir, dass er dem Schlachter die Waffe entrissen habe. „Ich konnte mir das nicht mehr ansehen. Da habe ich das Schwein erschossen“, meinte er. Paul war Tischler und hatte noch nie einem Schwein etwas zu Leide getan. Aber er war nüchtern und das war wohl hier entscheidend. Warum er kurz darauf mit dem Schussgerät nach oben kam, hat er mir nicht verraten. Ich nahm an, er wollte dem toten Haustier weitere Versuche von Joseph ersparen, denn so ein Schlachter hat ja auch seinen Stolz und möchte nicht mit einem Fehlversuch nach Hause gehen.
Hahn ohne Kopf
Heute werden Kinder und auch Jugendliche vor Filmen mit furchtbarer Hinrichtungsszene bewahrt. Ich musste jedoch schon als Zehnjähriger eine solche vornehmen – allerdings nur an einem Hahn. Vater war in französischer Kriegsgefangenschaft, Opa konnte nicht – hatte ja auch schon den ersten Weltkrieg verloren. Zum Hühnerschlachten bestimmten Mutter und Schwester mich – armer Junge! Nachdem mir ein Nachbar gezeigt hatte, wie man ein Huhn hinrichtet, sollte ich nun unseren starken Rodelländer Hahn das Leben nehmen. Das ging so: Hahn fangen und an den Beinen festhalten, dann schleudern zwecks Vorbetäubung, dann Hahn auf Holzklotz legen, so dass Kopf runterhängt. Mit stumpfer Seite von Beil betäuben. Spätestens jetzt auch noch die kurzen, kräftigen Flügel in die linke Hand nehmen und mit der rechten sowie der scharfen Seite des Beiles seinen Kopf abhacken. Das alles verlief bei mir äußerst zufriedenstellend. Doch dann kam etwas, womit ich keinesfalls gerechnet hatte. Der kopflose Vogel begann zu flattern und zwar so heftig, dass ich seine Flügel nicht mehr in meiner linken Hand festhalten konnte. Das hatte Konsequenzen: Flügel oben, Körper unten – Flügel unten, Körper oben! Der rote Hals war derweil aus der losen Haut hervorgetreten und verspritzte Blut, so wie ein Gartenschlauch, der dem Kleingärtner entglitten ist. Die Beine des Geköpften hielt ich mit aller Macht fest, konnte aber nicht verhindern, dass mein Gesicht und meine Kleidung mit Blut bespritzt wurden. Im Spiegel sah ich aus wie einer der grausamsten Scharfrichter des Mittelalters. Für die versaute Kleidung bekam ich keine Schelte. Dann durfte ich den Hahn mit meiner Schwester zusammen rupfen, d.h., meine Schwester und ich beraubten den Hahn seines Federkleides. Zuvor wurde er in einen Eimer mit heißem Wasser gesteckt, damit man die Federn überhaupt heraus ziehen konnte. Das stank – zumal auch noch manches Gas seinen Körper verließ und nicht nur das! Aber am Sonntag war alles vergessen: Es gab Hähnchensuppe und anschließend gekochten Hahn. Das war 1953 in Deutschland eine Delikatesse.