In unserer Nähe lag ein kleines Dorf, viel kleiner noch als das unserige. Eigentlich hätte es sich gar nicht „Dorf“ nennen dürfen, aber es hatte drei charakteristische Einrichtungen: Eine Kapelle, eine Kneipe und einen Fußballverein. Insofern ging das mit dem „Dorf“ schon in Ordnung. Der Bolzplatz grenzte direkt an die Außenmauer eines Gebäudes, das zu einer Möbelfabrik gehörte. Das Gebäude hatte ein eigenartiges Dach, das die Form zweier Halbzylinder besaß, die man nebeneinander gelegt hatte, so dass sich eine lange Rille zwischen ihnen bildete. Das hatte Konsequenzen für die Fußballspiele, die vor dem Gebäude stattfanden. Drosch man nämlich den Ball zu hoch über das Tor, dann kam er mit Verzögerung zurück – oder überhaupt nicht. Ein Ersatzball stand dem Verein nicht zur Verfügung. Daher kam es mitunter vor, dass ein Spiel abgebrochen werden musste. Wenn also eine Mannschaft kurz vor Ende des Spieles sehr weit im Rückstand lag, konnte diese sich immer noch durch einen Befreiungsschlag auf das Dach retten. Die „Kerzenschläger“, denen solch ein Schuss gelang, wurden ebenso berühmt wie die Torschützen.

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Das Sportfest

Es fand natürlich alljährlich ein Sportfest statt – im bescheinen Rahmen, versteht sich. Im Tor der Altherrenmannschaft stand der Dorfwirt. Er hatte bis zu dieser Stunde schon reichlich ausgeschenkt bzw sich eingeschenkt. Passieren konnte ihm auf dem Ascheplatz nicht viel, denn er war eingepackt wie ein Eishockeyspieler. Nur der Schläger und der Helm fehlten. Dafür trug er eine sog. Schlägerpfanne auf dem Haupte. Nun gab es einen Elfmeter gegen seine Mannschaft. Der Schütze war betagt und auch nicht mehr ganz nüchtern. Damit er nicht das Tor verfehle, hatte er einfach auf die Mitte der Torlinie geschossen. Was heißt „geschossen“ ? Der Ball rolle direkt auf den Kipper zu. Dieser hätte sich nur niederbeugen brauchen, um den Ball sicher in seinen Händen zu empfangen. Wenn er dieses wegen Schwindelgefühl unterlassen wollte, hätte er ruhig stehen bleiben können. Es wäre das „Geschoss“ an seinen Beinen abgeprallt, sofern diese nicht gespreizt worden wären. Nun hatte sich der letzte Mann offensichtlich auf eine Parade festgelegt. Er wollte den Ball unbedingt erhechten! Es wäre ja auch noch alles gut gegangen, wenn ihm das „Timing“ gelungen wäre. Der Mann unter der Schlägerpfanne sprang hoch, um sich bäuchlings auf den Ball zu werfen. Nur der war schon unten durch, als der Torsteher landete.

Der rechte Verteidiger

Das war kein Jurist, sondern ein Abwehrspieler-und was für einer! Wenn ein Miniaturdorf fünf Fußballmannschaften unterhalten will, dann muss der Verein jeden jungen Dorfbewohner aktivieren, der noch aufrecht auf seinen beiden Beinen stehen kann. So hatten wir einen rechten Verteidiger, den wir Walusch nannten. Er war ein sog. Grobmotoriker. Wenn Walusch sich einmal entschlossen hatte, den Ball wegzuschlagen, dann schlug er auch zu, ganz gleich, ob sich die Situation geändert hatte oder nicht. Gegenspieler, die ihn kannten, versuchten an den Ball zu kommen, bevor Walusch zum Beinschlag ausgeholt hatte. Gelang ihnen dieses nicht, dann ließen sie ihm den Ball. Bald kannte ihn jeder Stürmer.

Der Gedankenspieler

Fast jedes Dorf hatte damals ein Original. Es wurde nicht in einem Heim versteckt, wie das heute in der Regel ist. Es gab auch keine solchen Heime. So hatten wir auch bei uns einen Sonderling. Unser Bolzplatz war durch Betonpfähle begrenzt, die im oberen Teil ein Loch aufwiesen, durch das ein Eisenrohr geführt worden war. Dort stand er nun, beide Hände um das Rohr geschlungen, und spielte mit. Die fußballbegeisterten Dorfbewohner kannten ihn und überließen ihm ein beachtliches Terrain, auf dem er sich austoben konnte. Fremde mussten natürlich Lehrgeld bezahlen. So weit, so gut ! Doch eines guten Sonntages schlug dieser junge Mann dann doch über die Strenge. Der Erzrivale aus dem Nachbardorf war angetreten, um eine „alte Rechnung zu begleichen“. Bis kurz vor dem Abpfiff stand es unentschieden. Doch dann flankte ein gegnerischer Mittelfeldspieler haargenau. Der Stürmer, welcher den Pass angenommen hatte, umspielte unseren Torhüter und der Ball rollte ganz gemächlich auf das Tor zu. Da hielt es der Gedankenspieler an der Eisenstange nicht mehr aus! Er eilte auf das Spielfeld und drosch den Ball ins Seitenaus. Es wurde lange diskutiert bis schließlich der Schiedsrichter entschied: Kein Tor! Die allgemein verbreitete Kriegsmüdigkeit sorgte dafür, dass keine Fehde zwischen den Nachbardörfern ausbrach.

Der Schalker

Nach dem Kriege hatten sich viele erstklassige Fußballer aus dem Ruhrgebiet in ländlichen Regionen niedergelassen, wo sie Unterkunft bei Freunden gefunden hatten. So kam auch ein Schalker Spieler in unser Dorf, wo er dann auch in der ersten Mannschaft spielte. Da die Haushalte noch nicht über Fernseher verfügten, blieb er in den ersten Spielen unerkannt. Mein Onkel erzählte mir folgendes: Die Bauern aus dem Nachbardorf schickten ihre „erste Division“, um unsere Fans zu demütigen. Bis zur 80.Minute führte ihre Mannschaft haushoch. Doch dann wurde bei uns der Schalker eingewechselt. Innerhalb von nur 10 Minuten schoss er sechs Tore. Ein Dorfbewohner riss daraufhin einem Verehrer des Gegners die Mütze vom Kopf und warf sie hoch in die Luft. Wenn ich meinem Onkel glauben darf, entwickelte sich anschließend eine Schlägerei, bei der jedoch keiner zu Schaden kann. Das ostwestfälische Gemüt ist sehr fair und schlägt nur auf die harten Körperteile, bei denen man sich höchstens die Fäuste verletzen kann. Aber diese sind genauso widerstandsfähig wie die Köpfe.

Die fehlende Orientierung

In der Realschule spielten wir in der Turnhalle des Öfteren den sogenannten Matten-Ball, eine besondere Art von Handball. Dabei wurden an den Enden des Spielfeldes je zwei Matten, die einzeln 1mX2m maßen, nebeneinander gelegt, so dass sie einen Bereich von vier Quadratmetern abdeckten. Die Matten ersetzten das Handballtor, denn über solche verfügte unsere Schule kurz nach dem Kriege noch nicht. Jede Mannschaft bestand aus fünf Feldspielern und einem Torwart, der auf der Doppelmatte hockte.  Er versuchte, eine Berührung zwischen Ball und Matten zu verhindern. Die Feldspieler warfen nun von außerhalb des Wurfkreises den Ball auf die  Matten des Gegners. Berührte der Ball dabei eine Matte, so zählte das als Tor.
In unserer Mannschaft befand sich ein Spieler, der sehr kurzsichtig war. Er hieß Horst und trug in der Regel eine Brille, die er leider während des Spiels nicht tragen durfte. Kontaktlinsen gab es damals noch nicht. Dennoch konnte Horst auch ohne Brille einigermaßen erfolgreich mitspielen; denn die Matten waren auch für ihn kaum zu übersehen.  Nun war Horst aber sehr eigenwillig und gab den Ball nicht gerne her, weder dem Gegner noch einem seiner Mitspieler. Bei einem unserer Spiele geschah dann das, was schon seit Langem zu erwarten war: Ein flinker und schneller Gegenspieler, wollte dem Horst den Ball unbedingt abnehmen. Horst wusste sich nicht anders zu helfen, als sich sehr schnell um seine eigene Achse zu drehen. Als er sich endlich freigekämpft hatte, da hatte er seine Orientierung verloren.  Er lief auf die eigenen Tormatten zu, auf denen ich saß. – Er aber erkannte offensichtlich seinen eigenen Torwart nicht und knallte mir den Ball auf die Matte. Wir hatten ein Tor vom eigenen Mitspieler bekommen.
Die Verhältnisse in dieser Geschichte, lassen sich auf eine höhere Ebene transformieren, wenn man Horst seine körperlichen Gebrechen auf geistige Defizite überträgt: Neben der körperlichen gibt es eben auch die geistliche Kursichtigkeit. Kommt dazu noch Eigenwilligkeit, die um die eigene Person kreist , dann kann eine geistliche Orientierungslosigkeit entstehen, so dass selbst ein geliebtes Gottes-Kind ein geistiges „Eigentor“ schießt, indem es Schaden für sich und andere seiner christlichen Gemeinschaft anrichtet. (1.Petrus 5,2 / Römer 16,17)

21.10.17 Kk

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