Neben den Nachkriegs-Originalen in der Öffentlichkeit, gab es noch einige, die nur dem erlauchten Kreise der Schüler zugänglich waren. Auch bei ihnen waren die Folgen des Krieges durchaus noch zu spüren, diese behinderten die Unterrichtsarbeit der meisten jedoch nicht völlig. Schließlich konnten sie ja noch reden, wenngleich das auch nicht viel heißen sollte! Bei einigen von ihnen stellten wir jedoch unübersehbare und unüberhörbare Schäden fest.

Inhaltsverzeichnis

Der Kunstlehrer

Kurz nach dem Zweiten Weltkriege war der Lehrermangel in den Schulen sehr groß. Viele Männer in den besten Jahren hatten ihr Leben auf den Schlachtfeldern verloren. Andere konnten nicht unterrichten, weil sie sich entweder in Gefangenschaft befanden oder weil sie so stark kriegsversehrt waren, dass ein Dienst in der Schule nicht mehr in Frage kam. So war man darauf angewiesen, betagte pensionierte Lehrer wieder einzustellen oder sogar fachfremde Lehrkräfte einzusetzen. Auf diese Weise gerieten wir an einen siebzigjährigen freischaffenden Künstler, der von der Pädagogik bislang unberührt geblieben zu sein schien. Er brachte uns in der gymnasialen Oberstufe die verschiedensten Zeichentechniken bei und versuchte uns für seine Kunst zu begeistern. Bei einigen von uns erweckten seine Bemühungen eine Ahnung von dem, was er meinte ­ oder von dem , was wir meinten, dass er meinte. Den meisten aber blieb der Zugang zu seiner Kunst verschlossen. Nun verfügte dieser Mann durchaus über eine gewisse Schläue, was sich darin zeigte, wie er seine Doppelstunden gestaltete. So ließ er uns in den beiden letzten Stunden des morgendlichen Unterrichtes durch die ganze Stadt zum Kunsthaus wandern, ohne uns persönlich zu begleiten ­ wohlwissend, dass nur die halbwegs Interessierten dort ankommen würden. Die anderen waren unterwegs in einer der zahlreichen Kneipen verschwunden, die an unserem Wege lagen, oder sie hatten schon die Straßenbahn für die Heimfahrt bestiegen. Natürlich kontrollierte er nicht die Anwesenheit im Kunsthaus! Er war heilfroh, dass nur der harte Kern seiner Klasse dort saß und brav Bilder abzeichnete. Nun konnte er nicht immer seinen Kunstunterricht in eine Wanderstunde und eine Zeichenstunde aufteilen.
So nahte denn die Doppelstunde der theoretischen, kontemplativen Betrachtungsweise. Dazu verwendete er Dias, die er mit erläuternden Kommentaren begleitete. Momentan bildeten gotische Kirchen das Thema. Nun formulierte er aber nicht so, wie es Schüler des naturwissenschaftlichen Zweiges eines Realgymnasiums gewohnt waren. Oh, nein! Unser Kunstlehrer modellierte nicht enden wollenden Sätze mit pompösen Mittelwortkonstruktionen der folgenden Art: “ Die ins Jenseits führenden, über uns hinausweisenden, uns ergreifenden ….. hohen Gewölbe …“ Einige von uns glaubten zu verstehen, was er wohl meinen könnte, andere schauten skeptisch, wobei der Rest einfach blöd drein sah.Der Kunstlehrer sprang herum, gestikulierte, formulierte – und das Echo in der Schülerschaft? Nichts! Keiner beteiligte sich am Unterricht. Das mochte ihm selbst nicht behagen. Aber er war nicht in der Lage, die Situation zu ändern. Entweder war er zu alt oder pädagogisch zu ungeschickt oder intellektuell einfach zu weit weg, um uns entgegenzukommen, so dass wir ihn verstehen konnten. Nun waren wir alle quicklebendige, aufgeweckte Unterprimaner, die beschäftigt werden wollten. Daher konnten auch wir mit dieser mißlichen Lage nicht zufrieden sein. Aber keiner von uns wagte es, die künstlerische Völlerei des Lehrers zu teilen. Doch unser betretenes Schweigen war auch keine Lösung.

Schließlich faßte sich Schüler B ein Herz und meldete sich zu Wort. Es ging ein Ruck durch die Schülertruppe. Alle schauten auf ihn und einer rief: “ Herr D.. Schüler B.. meldet sich, B.. meldet !!“ Die Augen von Kunstlehrer D begannen zu leuchten. Endlich ein Echo, endlich ein Begeisterter – wie lange hatte er schon darauf gewartet? Und dann begann der große Augenblick. B erhob sich und formulierte: “ Das Hinaufstrebende, uns Ergreifende und nicht mehr Loslassende… “ Je länger der Schüler sich verausgabte, desto trauriger wurde D`s Mienenspiel. Es konnte ihm nicht verborgen bleiben, dass hinter all diesen Worthülsen der künstlerische Sachverstand fehlte. Es blieb das einzige Mal, dass ein Schüler unserer Klasse versuchte, Herrn D das Wasser zu reichen.

Nach 30 Jahren erfuhren wir im Rahmen eines Klassentreffens, warum dieser Vorfall der einzige Auftritt von B blieb. Der greise Künstler hatte einen langen Brief an die Mutter des Schülers geschrieben. Danach wollte der einzige Sohn einer Kriegerwitwe seiner Mutter keinen Kummer mehr bereiten. Das hat er auch nicht. Er landete später in der Chefetage eines pharmazeutischen Weltkonzerns. – Der Kunstlehrer blieb mir durch seine Sprüche in Erinnerung. Einen ganz einfachen davon habe ich bis heute wörtlich behalten: „Wenn wir einer
Verlockung entsagen, da ist Sieg, da ist die Gottheit selbst.“ Diesen Spruch habe ich im späteren Leben mehrfach beherzigt. Dabei habe ich seine positive Wirkung erfahren.

Der Geschichtslehrer

Herr A war klein, beredt und vital. Daneben verfügte er über ein beachtenswertes schauspielerisches Talent. Er hatte am Rußlandfeldzug teilgenommen und dabei einige Krieger Stalins entwaffnet. Irgendwann mußte er diese Geschichte einem oder mehreren Schülern mitgeteilt haben, danach wurde sie zum Selbstläufer. Wenn wir keine Lust mehr verspürten, seinem Unterricht zu folgen, wante sich einer von uns an ihn mit der Bitte:“ Herr A , erzählen sie doch noch einmal, wie sie die zehn Russen gefangen genommen haben.“ Danach verlief die Geschichtsstunde nach unserer Vorstellung. Nachdem er eine Handgranate ins Feindesland geworfen hatte, seien etwa zehn lange Russen aus einem Schützengraben hervorgekrochen. An dieser Stelle verließ er die Gegenwart: Der kleine Mann sprang hoch, hielt die Arme und Hände so, als habe er eine Maschinenpistole im Anschlag, und schrie: „Kommt da raus ihr Schweine, sonst knalle ich euch alle ab.“ Dann demonstrierte er uns, wie die Gefangenen gezittert hätten. Diese Geschichte konnte man bei ihm beliebig oft abrufen.
Er reagierte darauf so wie ein Tier auf einen sogenannten Schlüsselreiz.

Der Deutschlehrer

Ganz harmlos nahm sich dagegen ein anderer Spruch aus, der mitunter einem Deutschlehrer enteilte: „Pass einmal auf Du falscher Patron, gleich werd` ich mich einmal ernstlich erzürnen!“ Das witzige an diesem Ausspruch war, dass sich der Lehrer schon ernstlich erzürnt hatte, als er diesen Spruch losließ, was man dem Tonfall seiner Worte recht deutlich entnehmen konnte. Daher hätte die Drohung ohne Wirkung bleiben müssen. Aber wir mochten ihn und wollten ihn nicht reizen. Daher blieb diese seine Äußerung wieder Erwarten pädagogisch wirkungsvoll. Trotzdem, lustig erschien sie uns alle Male.

Der Stenolehrer

Ein fanatischer NS-Lehrer war nach dem Kriege seines Amtes als Schulleiter enthoben worden. Das muss seinen Nerven den Rest gegeben haben, so dass auch ihm eine Macke nicht erspart geblieben war. Einige Schüler der Klasse hatten sie schnell herausbekommen und zum Tagesgespräch gemacht.
Reizte man diesen Lehrer zu sehr, so kam folgender Spruch über seine Lippen: „Ich reiße Dir gleich den A… auf, so dass die Kerne knacken!“ Heute würde so ein Satz die Schulaufsichtsbehörde auf den Plan rufen. Doch damals hatten die kriegserfahrenen Lehrer noch einen sog. „Idiotenbonus“. Wir machten uns einen Spaß daraus, diesen armen Lehrer zu jener groben Drohung zu provozieren. War uns das gelungen, dann warfen wir uns in die Brust, als hätten wir einen Orden
für besondere Tapferkeit vor dem Feind verdient.

Der Chemielehrer

Einem anderen Lehrer hatte der Krieg eine ganz andere Verhaltensweise aufgezwungen. Vom Krieg erzählte er überhaupt nichts. Stattdessen zog er, in einer mobilen Litfasssäule verborgen, fast jeden Tag durch die Stadt und demonstrierte für den Frieden. Er war Pazifist geworden. Doch das Feuer hatte ihn nicht losgelassen, denn er behandelte die Oxidation des Kohlenstoffes fast ein ganzes halbes Jahr lang. Er begann seine Stunden regelmäßig mit dem folgenden Satz: “ Am Anfang war der Flogiston, der Feuergeist!“
Dann erzählte er uns, dass die Menschen früher den Übergang von Holz zu Asche dadurch zu erklären versuchten, dass sie einen Feuergeist annahmen, der bei der Verbrennung entweicht und dadurch den Gewichtsverlust des Holzes verursacht. So weit so gut! Nun forderte er zu Beginn einer jeden Chemiestunde einen Schüler auf, den Unterrichtsgegenstand der vorangegangenen Stunde zu wiederholen. Dieser kam seinem Wunsche in der angemessenen Genauigkeit nach. Doch wie der Schüler sich auch mühte, sein Chemielehrer war damit nicht zufrieden. Von ihm kam immer wieder derselbe Kommentar: „Ist nichts – ich wiederhole!“ Dann folgte wieder die Geschichte vom Flogiston, und zwar so, dass ein Unterschied zu der des Schülers für uns keineswegs einsichtig war.
So ging das Stunde für Stunde. Erstaunlich an der ganze Begebenheit war, dass einer unserer Klasse später nach Studium und Promotion in den USA die Forschungsabteilung der Bayer-Werke in Wuppertal leiten durfte. Am Gymnasium hatte er wenig Chemie gelernt. Doch dieser Lehrer hatte ihn offenbar auch nicht davon abhalten können, Chemie zu studieren.

Die Handarbeitslehrerin

Einfallsreiche I-Männchen konnten in der Volksschule viel erleben. Jedoch mussten sie auch viel ertragen. Eine Handarbeitslehrerin unterrichtete in dem oberen Klassenraum des Schulgebädes Stopfen und Stricken. Meistens standen dabei die Oberlichter der Fenster offen. In einem Winter mit reichlich Schnee wurden dadurch mein Freund Wilfried und ich dazu verleitet, Schneebälle durch die Oberlichter zu werfen. Nachdem wir etwa dreimal Treffer gelandet hatten, mutmaßte ich, dass die Handarbeitslehrerin Frau Haferkamp wohl schon unterwegs sein müsse. Doch Wilfried machte einfach weiter. Ach, wäre ich doch auch geblieben! Stattdessen floh ich, leider in die falsche Richtung! Als ich um die Ecke des Gebäudes bog, da kam sie mir schon entgegen. Sie zeigte ein furchterregendes Gesicht. Da sie auch Sport erteilte, bedeckte ein Trainingsanzug damaliger Prägung ihren Leib. Hose und Jacke des Zweiteilers berührten nur an Händen und Füßen die Haut, also Marke „Bollerhose“. Sie schob einen mächtigen Bauch vor sich her, der die Brüste trug. Sie sah recht kugelig aus. „Warst du auch
dabei“, tönte es mit tiefer Stimme. Mein Herz pochte. Meine Furcht ließ nur ein „Nein!“ zu. Leider verschlimmerte sich dadurch die Situation für mich. Kurz nach meiner Falschaussage hörte ich Wilfried hinter mir laut schreien. — Er hatte es nun hinter sich!
Als die Haferkampsche zurückkam, herrschte sie mich an: „Komm mit!“ Ich ahnte Böses. Sie führte mich nach oben, wo die vielen Mädchen
ihrer Handarbeit nachgingen. Dann packte sie mich rücklings an den sich überkreuzenden Hosenträgern und hob mich hoch. Die Mädels starrten mich
an und ich sie. Dann trafen harte Stockschläge meinen Allerwertesten. Das Wunderbare an dieser öffentlichen Zur—Schau—Stellung war,
dass kein Mädchen lachte. Sie alle schauten mich entsetzt an, als ich meine Pantomime vorführte. Diese Mädchen, sofern sie noch leben,
müssten heute Frauen in den Siebzigern sein. Hiermit möchte ich mich nachträglich bei all diesen Frauen für ihr damaliges Verhalten
ganz herzlich bedanken.

Der Hauptlehrer in der Volksschule

Unsere Volkschule war eine „Ich-AG“. Der Hauptlehrer war zu Anfang meiner Schullaufbahn der einzige Lehrer der Erziehungsanstalt. Er unterrichtete 1950, das Jahr meiner Einschulung, vier Klassen gleichzeitig. Eigentlich waren es mehr, doch mitunter wurden zwei Klassen zusammengelegt. So war der Jahrgang 1943, der nur aus drei Kindern bestand, mit dem von 1942 in einer Klasse zusammengefasst.
Da das Schulhaus nur zwei Räume zur Verfügung hatte, wurden in einem Klassenzimmer gleichzeitig zwei Klassen unterrichtet. Die eine Klasse saß
links in den Bänken, die andere rechts. In der Mitte befand sich ein Durchgang, der direkt zur einzigen Tafel des Klassenzimmers führte. Unvergessen bleibt mir der Mathe-Unterricht. Wilhelm, so war der Name der Lehrperson, schrieb eine Aufgabe an die Tafel und löste sie anschließend selbst.Unter sein Ergebnis schrieb er mehrere Mathe-Aufgaben ähnlicher Art, die wir bearbeiten sollten. Dann behandelte er eine Aufgabe, welche für die nächsthöheren Klassen vorgesehen war, die neben uns saßen. Auch dazu gab es Übungsaufgaben. Und schon flitzte er durch den Gang und dann die Treppe hoch zu den anderen beiden Klassen, die sich oben befanden. Während er dort seinen pädagogischen Pflichten nachging, lösten wir unten die Aufgaben natürlich im Team. Das war nicht im Sinne der Lehrkraft aber für uns damals unausweichlich! Wir hatten dazu reichlich Zeit, zu viel Zeit. Wenn er wieder herunterkam, dann sprangen viele von uns über Tisch und Bänke. Wilhelm, der auch unser Erzieher war, fackelte nicht lange. Er war immer mit einem Stock unterwegs, den er zu gebrauchen wusste. Eltern beschwerten sich nicht, wenn ihr Zögling mit blauen Striemen nach Hause kam. Warum auch? Sollte Wilhelm etwa mit seiner Frau zusammen eine Klassenkonferenz abhalten und den ungehorsamen Schüler der Lehranstalt verweisen? Wem hätte das schon genutzt? Mehr Schwierigkeiten ergaben sich beim Überprufen der Hausaufgaben. Wilhelm war natürlich auch damit total überfordert. Er konnte nur beruflich überleben, wenn er einen Gefolgsmann rekrutierte, dem er absolut vertrauen konnte. Wen erwählt dazu der wilhelminisch erzogener Beamte? Natürlich einen Verwandten! Der hieß Herrmann und war sein Neffe. Herrmann war zwar gescheidt und auch vertrauenswürdig aber leider kein guter Mathematiker. Vor der Hausaufgabenkontrolle ergriff Wilhelm das Mathe-Heft seines Neffen und verglich die Ergebnisse, die er in diesem Hefte vorfand, mit denen der anderen Schüler. Auf diese Weise kam es des Öfteren vor, dass bei guten Mathe-Schülern einige ihrer richtigen Lösungen als falsch bewertet wurden, dann nämlich, wenn Herrmann sich verrechnet hatte. Deswegen waren wir Wilhelm aber nicht böse, sondern fühlten uns zur Mitarbeit berufen. Wir gaben vor jeder Stunde, in der die MA-HA überprüft wurde, dem Neffen einfach das Heft von Rolf, welcher unser zuverlässigster Rechner war. So erzielten wir mehr Gerechtigkeit! Kk

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