Als ich 1965 mein Lehramtsstudium an der Universität Münster begann, da waren die Verhältnisse dort noch sehr bescheiden. In Mecklenbeck hatte ich meine erste Studentenbude. Dieses Dorf, das heute ein Stadtteil von Münster darstellt, lag damals noch außerhalb der Stadt. Von einem Kindergarten und ein paar neuen Häuser abgesehen, war hier nur Buschwerk, Wiese und ein Rinnsal. Mit dem Rad fuhr ich von hier aus zum Schloss, dort wo unter dem Dach die Mathematikvorlesungen abgehalten wurden. In einem Nebengebäude fanden die physikalischen Experimente statt, an denen sich Lehramtsanwärter und angehende Ärzte zu ergötzen pflegten.

Inhaltsverzeichnis

Fallversuche im Hörsaal

Im großen Physikhörsaal befanden sich neben Physikstudenten auch Famula der Medizin, die dort ihr Physikum absolvierten. Der Raum faßte mehrere hundert Studenten, deren Sitzgelegenheiten vom Boden bis unter die etwa sieben Meter hohe Decke reichten. Es sah so ähnlich aus wie in einem modernen Fußballstadion. Für Demonstrationen zum Fallgesetz hatte man in der Decke ein viereckiges Loch gelassen von etwa einen Meter im Quadrat. Vor jedem Versuch hob der bereits ergraute Assistent vom Dachboden aus vorsichtig die Abdeckung des Loches hoch und steckte seinen Kopf durch die Luke, um sich zu gewissern, ob der fallende Gegenstand auch wirklich nur den Hörsaalboden treffen würde – und nicht das erlauchte Haupt seines Herrn. Dabei erhob sich immer ein schallendes Gelächter unter den Studentinnen und Studenten. Eigentlich war es nicht zum lachen, aber es sah so lustig aus: Nur ein weißer Kopf mit einem kurzen Hals auf schwarzem Hintergrund in einer ansonsten schneeweißen Decke war zu sehen – irgendwie makaber! Dann warf er endlich eine Schnur aus der Luke. An ihr waren kleine Bleikugeln im Abstande von 1m, 4m und 9m angebracht. Zwischen dem Aufprallen der Kugeln entstanden gleiche Zeitintervalle, obwohl die räumlichen Abstände zwischen ihnen extrem verschieden waren.
Mitunter wurden auch Fallversuche durchgeführt, die speziell für Mediziner gedacht waren. So hatte einer meiner späteren Kollegen am Gymnasium noch miterleben dürfen, wie eine Katze aus der Luke geworfen wurde. Hierbei ging es weniger um das Fallgesetz als vielmehr um die Fähigkeit einer Katze, mit dem Schwanze den Körper so zu steuern, dass dieser am Boden auf seine Füße fiel. Wir durften uns an solchen Experimenten nicht mehr erfreuen. Offenbar hatte der nach dem Kriege wiedererstarkte Tierschutzverein interveniert.
Ansonsten herrschte in dem stets überfüllte Hörsaal absolute Stille. Nur einmal hatten wir einen kleinen Spaß am Rande des physikalischen Geschehens:
Eine Studentin popelte in ihrer Nase und verspeiste anschließend ihr Erbohrtes. Wir ergötzten uns an dieser extrem kurzen Nahrungskette.So war das eben damals: Ma-Studenten konnten extrem kurze Kreisschlüsse produzieren (s.o.) und Mediziner kurze Nahrungsketten. Den Hang zur Vereinfachung gab es eben auch schon früher!

Defektes Rad im Hörsaal

Das Material in der Experimentalphysik war in den Sechzigern nicht das Beste. Das merkten wir schon bald:
Der Professor wollte uns die Kreiselwirkung an Hand eines Fahrrad-Vorderrades demonstrieren. Er hielt sich das Rad über den Kopf und drehte es. Dann versuchte er, die senkrecht stehende Nabe des Rades zu kippen. Er wollte zeigen, dass diese stabil bleibt und sich eben nicht
kippen lässt. Bei seinem Versuch brachen allerdings die meisten Speichen und die Felge legte sich wie ein Siegeskranz um seinen Kopf , direkt auf seine Schultern. – Unserem Gelächter wollte sich der Professor nicht anschließen!

Das Essen in der Mensa

Wenn heute die Studenten über die Mensaspeise klagen, dann haben sie keine Ahnung von dem, was wir zwischen 1965 und 1970 durchgemacht haben. Als mittellosen Arbeitersohn hatte man mir Freitisch gewährt. Das hört sich großzügig an – war es für die damalige Zeit auch – verbirgt aber, mit wie vielen Risiken das verbunden war. Nach zwei Wochen hatte ich überall im Gesicht rote, punktförmige Flecken. Bei einem Besuch in der Heimat päppelte meine Mutter mich wieder auf mit Salat und viel Obst aus unserem Garten. Einmal gab es in der Mensa Rotkohl mit Kartoffeln und Fleisch. Allein die Kartoffeln waren von normaler Qualität. Der Rotkohl war grau und schmeckte wie ausgekautes Kaugummi. Er war absolut
ohne jeglichen Geschmack. Das Stück Fleisch hatte es in sich, im wahrsten Sinne des Wortes. Es war unzerkaubar und daher auch unverdaubar. Meines hatte sich mit Hilfe einer Sehne an einem Backenzahn festgehalten. Immer wenn ich es schon glaubte verschluckt zu haben, zog es sich durch meine Speiseröhre wieder nach oben. Man würde heute den gesamten Vorgang als „Schluck-bunching“ bezeichen. Alle ließen zurückgehen. Auf dem Fließband lagen die zerkauten kleinen Fleischstücke. Fast alle Studenten hatten versucht, sie zu verspeisen, mussten sich aber offenbar geschlagen geben. An den Wochenenden, an denen wir nicht nach Hause fuhren, aßen wir daher im „Marianum“, einer katholischen Einrichtung. Dort gab es an den Wochenenden für Studenten ein qualitativ gutes Essen für wenig Geld. Alle, ob Protestanten, Sektierer, Juden oder Moslime, die dort gegessen haben, denken noch heute voller Dankbarkeit an diese „Armenspeise“ zurück. An den Wänden des Speisesaales hingen nicht selten drei Schichten von Mänteln übereinander. Davor stand eine Reihe
von Studenten, deren Blicke über die vollbesetzten Tische schweiften. Wenn einer der Tische frei wurde, stürzten sich gleich mehrere auf die verlassenen Stühle.
Einmal passierte mir beim Verlassen diese Stätte etwas, welches ich nie vergessen werde: Als ich nach dem Besuch des Marianums wieder im Studentenheim vor der Tür meines Zimmers stand, musste ich feststellen, das der Schlüssel, der in der Manteltasche steckte, nicht ins Schlüsselloch passte. Was war geschehen? Der warme Mantel von C&A, den ich momentan trug, war nicht mein eigener, obwohl er ihm täuschend ähnlich sah. Die Sache klärte sich nachher auf und ich erhielt auch meinen eigenen Umhang wieder. Der Manteltyp war eben ein Renner unter Studenten geworden. Er war preiswert und gut und wurde daher von vielen getragen.

Die Achtundsechziger

Münster war spät dran. Als erzkatholische Stadt war sie ja auch eine Festung der Konservativen.
Doch bevor die kampferprobten Kommilitonen im Stadttheater die Bühne eroberten, bereiteten wir ihnen den Boden durch kleine Errungenschaften,
die das Studentenleben angenehmer gestalteten. Da war z.B. die Eroberung der Rasenflächen: An mehreren Stellen des frischgemähten Rasens am Aasee stand ein Schild mit der Aufschrift „Betreten des Rasens verboten“. Ein älterer Herr in blauer Uniform mit Schirmmütze, die ihn als Stadtdiener auswies, sorgte für die Einhaltung dieser Vorschrift. Wo er hinging, da standen die Studentinnen und Studenten auch brav auf, setzten sich aber dort wieder nieder, wo die Amtsperson momentan nicht
anwesend war. Diese Methode hatten wir von den Aasee-Enten übernommen. Nachdem wir dieses Spiel einen ganzen Tag lang mit ihm betrieben hatten, ließ sich der Stadtdiener am nächsten Tag nicht mehr sehen. Vielleicht war er entmutigt worden oder hatte konditionelle Probleme bekommen. Mit der Zeit verschwanden auch die Verbotsschilder vom Rasen. Leute, wenn ihr heute gepflegten Rasen betreten dürft, denkt daran, wir haben das für Euch damals erkämpft – zumindest in Münster!!!

Fernsehen

Studenten durften auch im Heim Fernsehen. Es gab aber nur einen einzigen Röhrenfernseher für 100 Studenten. Dennoch gab es keinen Streit um die Programme. Es gab allerdings nur zwei: ZDF und ARD. Ab 20 Uhr Nachrichten: 1967 brach der Sieben-Tage-Krieg in Nahost aus. Tagelang dauerte die Nachrichtensperre, dann die Botschaft: „Israels Panzer rollen mit 60 Km/Std durch den Sinai, die Luftwaffen der Ägypter, Syrer und Jordanier an einem Tag zerstört!“ Dann das bewegende Bekenntnis des Königs von Jordanien, der bis zuletzt in der Westbank an der Spitze seiner getreuen Soldaten gekämpft hatte: „God was on the site of Israel!“
In einer Fernsedokumentation über den ehemaligen Ministerpräsidenten Ägyptens Mohamed El Sadat wurde später berichtet, der damalige jordanische König Hussain, Vater des jetzigen Herrschers, habe seine Divisionen im Sieben-Tage-Krieg gegen Israel dem Kommando El Sadats unterstellt. Diese Behauptung ist eine Geschichtsverfälschung: Im besagtem Krieg gegen Israel führte El Sadat als General die ägyptischen Truppen in der Sinaiwüste während König Hussain in der Westbank an der Spitze seines treuen Beduinenheeres kämpfte. Dieses Heer hätte sich niemals einem ägyptischen Oberbefehlshaber unterordnet. Die Verluste der Israelis waren in der Westbank am höchsten, weil die treuen Beduinen ihren tapferen König nicht im Stich lassen wollten und deswegen aufopferungsvoll für ihn kämpften. Auch die jordanischen Verluste waren sehr hoch. Schließlich mussten die tapferen jordanischen Soldaten ihren König mit Gewalt aus der Schußlinie bringen. Am Ende des Krieges hat dann dieser König, welcher in Ocksford studiert hatte, im TV in gutem Englisch obige Worte gesprochen. Ausführlicher: „Fire was comming from heaven (isrealic bombs). It was terrible. God was on the side of Israel.“ Gut, dass ich diese Worte als junger Student am TV selber gehört habe. Gut, dass ich sie mir immerwieder ins Gedächtnis gerufen habe.- Einen Zeitzeugen kann man nicht täuschen!!!Kk
Geschichten: Meine Memoiren

1 Kommentar zu „Geschichten: Uni,Haus und Straße“

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